Verstrahlte Wildschweine: Forscher ermitteln unerwartete Ursache

Auch Jahrzehnte nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl bleibt Wildschweinfleisch erstaunlich radioaktiv. Forscher fanden jetzt des Rätsels spannende Lösung.

Wildschweine, die in einem herbstlichen Wald brechen. Daneben ein „Strahlenwarnzeichen“ (Symbolbild: Alexander Antropov/Eszter Miller auf Pixabay)
Wildschweine, die in einem herbstlichen Wald brechen. Daneben ein „Strahlenwarnzeichen“ (Symbolbild: Alexander Antropov/Eszter Miller auf Pixabay)

Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 hatte erhebliche Auswirkungen auf die Wälder in Mitteleuropa. Aufgrund der hohen radioaktiven Belastung wurde vom Verzehr von Pilzen damals abgeraten, und das Fleisch von Wildtieren war ebenfalls für einige Jahre stark betroffen. Während die Belastung des Wildbrets von Hirschen und Rehen im Laufe der Zeit wie erwartet abnahm, änderten sich die Werte im Fleisch von Wildschweinen überraschend langsam. Deutliche Überschreitungen der Grenzwerte werden auch heute immer noch festgestellt. Bis vor kurzem galt dieses „Wildschwein-Paradoxon“ als ungelöst. Nun konnte jedoch durch aufwändige Messungen der TU Wien und der Leibniz Universität Hannover eine Erklärung gefunden werden: Es handelt sich, wie von der TU Wien berichtet, um eine Spätfolge der Atomwaffentests aus den 1960er-Jahren.Mehr Strahlung als die Physik erlaubt?

„Entscheidend für die Radioaktivität der Proben ist Cäsium-137, mit einer Halbwertszeit von rund 30 Jahren“, sagt Prof. Georg Steinhauser von der TU Wien. „Nach 30 Jahren ist also die Hälfte des Materials ganz von selbst zerfallen.“ Die Strahlenbelastung von Lebensmitteln nimmt normalerweise jedoch viel schneller ab. Das liegt daran, dass sich das Cäsium seit der Tschernobyl-Katastrophe verteilt hat, durch Wasser ausgewaschen wurde, sich in Mineralien gebunden hat oder möglicherweise tief in den Boden gelangt ist, wodurch es von Pflanzen und Tieren nicht mehr in derselben Menge aufgenommen wird wie unmittelbar nach dem Reaktorunfall. In den meisten Lebensmittelproben beträgt die Aktivität daher nach Ablauf einer Halbwertszeit nicht einfach die Hälfte der ursprünglichen Aktivität, sondern deutlich weniger.

Bei Wildschweinfleisch verhält es sich jedoch anders: Die Strahlenbelastung bleibt nahezu konstant – sie nimmt deutlich langsamer ab, als man es allein durch den natürlichen radioaktiven Zerfall von Cäsium erwarten würde. Dies ist aus physikalischer Sicht auf den ersten Blick ein völlig widersinniges Ergebnis.

Bis heute werden in ganz Europa noch Wildbretproben von Wildschweinen genommen, die für den Verzehr nicht geeignet sind, da ihre Strahlenbelastung den erlaubten Grenzwert deutlich überschreitet. In Deutschland ist dies z. B. in einigen Bereichen Bayerns der Fall. Dies führt möglicherweise dazu, dass Wildschweine in einigen Regionen kaum gejagt werden und erhebliche Schäden in der Land- und Forstwirtschaft verursachen.

Cäsium ist nicht gleich Cäsium: Die Suche nach der Herkunft

Prof. Georg Steinhauser, der 2022 von der Leibniz Universität Hannover an die TU Wien wechselte, hat mit seinem Team dieses Rätsel untersucht. Durch neue, präzisere Messungen sollte nicht nur die Menge, sondern auch die Herkunft der Radioaktivität ermittelt werden.

„Das ist möglich, weil unterschiedliche Quellen radioaktiver Isotope jeweils einen unterschiedlichen physikalischen Fingerabdruck haben“, erklärt Dr. Bin Feng, der am Institut für Anorganische Chemie der Leibniz Universität Hannover und dem TRIGA Center Atominstitut der TU Wien forscht. „So wird etwa nicht nur Cäsium-137 freigesetzt, sondern gleichzeitig auch Cäsium-135, ein Cäsium-Isotop mit deutlich längerer Halbwertszeit.“

Das Mischungsverhältnis der beiden Cäsium-Sorten ist nicht immer gleich – es war etwa bei der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl anders als bei den Atomwaffentests der 1960er-Jahre. Wenn man dieses Verhältnis misst, kann man somit Information über die Herkunft des radioaktiven Materials erhalten.Cäsium-135 genau zu quantifizieren, ist aber sehr schwer. „Weil es eine so lange Halbwertszeit hat und nur selten zerfällt, kann man es nicht einfach mit Strahlenmessgeräten detektieren“, sagt Georg Steinhauser. „Man muss mit Methoden der Massenspektrometrie arbeiten und relativ großen Aufwand treiben, um es präzise von anderen Atomen zu unterscheiden. Das ist uns nun gelungen.“In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass etwa 90% des Cäsium-137 in Mitteleuropa auf Tschernobyl zurückzuführen sind, aber der Anteil in den Proben von Wildschweinfleisch wesentlich geringer ist. Stattdessen ist ein erheblicher Teil des im Wildschweinfleisch enthaltenen Cäsiums auf Atomwaffentests zurückzuführen – bei einigen Proben sogar bis zu 68%.

Ein Puzzleteil der Lösung: Wildschweine lieben Hirschtrüffel

Die Ursache dafür liegt in den besonderen Ernährungsgewohnheiten der Wildschweine: Sie haben eine Vorliebe für das Ausgraben von Hirschtrüffeln aus dem Boden. In diesen unterirdisch wachsenden Pilzen sammelt sich das radioaktive Cäsium erst mit erheblicher Verzögerung an.

Der unterirdisch wachsende Pilz Elaphomyces granulatus, besser bekannt als „Hirschtrüffel“, hier auf Moos liegend, in einem Fichtenwald. (Foto: iStock/Igor Kramar)
Der unterirdisch wachsende Pilz Elaphomyces granulatus, besser bekannt als „Hirschtrüffel“, hier auf Moos liegend, in einem Fichtenwald. (Foto: iStock/Igor Kramar)

„Das Cäsium wandert sehr langsam durch den Boden nach unten, manchmal nur rund einen Millimeter pro Jahr“, sagt Georg Steinhauser. Die Hirschtrüffeln, die in 20-40 Zentimetern Tiefe zu finden sind, nehmen somit heute erst das Cäsium auf, das in Tschernobyl freigesetzt wurde. Das Cäsium alter Atomwaffentests hingegen ist dort schon lange angekommen.“

Das Resultat des Ganzen ist ein kompliziertes Zusammenspiel unterschiedlicher Effekte: Sowohl das Cäsium der Atomwaffentests als auch das Cäsium aus Tschernobyl breitet sich im Boden aus, die Trüffel werden somit von zwei verschiedenen „Cäsium-Fronten“ erreicht, die nach und nach durch den Boden wandern. Andererseits zerfällt das Cäsium im Lauf der Jahre. „Wenn man all diese Effekte addiert, lässt sich erklären, warum die Radioaktivität der Hirschtrüffel – und in weiterer Folge der Schweine – größenordnungsmäßig relativ konstant bleibt“, sagt Georg Steinhauser.

Somit ist auch nicht damit zu rechnen, dass die Belastung von Wildschweinfleisch in den nächsten Jahren deutlich sinkt, denn ein Teil des Cäsiums aus Tschernobyl wird erst jetzt in die Trüffeln eingelagert. „Unsere Arbeit zeigt, wie kompliziert die Zusammenhänge in natürlichen Ökosystemen sein können“, sagt Georg Steinhauser, „aber eben auch, dass man Antworten auf solche Rätsel finden kann, wenn man genau genug misst.“

Quelle: TU Wien;  F. Stäger et al., Disproportionately High Contributions of 60 Year Old Weapons-137Cs Explain the Persistence of Radioactive Contamination in Bavarian Wild Boars, Environ. Sci. Technol (2023).