Wald, Corona, Lebensmittel und Artentod

Forschungsnetzwerk veröffentlicht „10 Must-Knows“ zur Biodiversität

Cover, Must-Knows, Leibniz-Gemeinschaft
Cover, Must-Knows, Leibniz-Gemeinschaft

Vom Klimastress für deutsche Wälder über den Umbau der Landwirtschaft bis zum von Tieren auf Menschen übergesprungenen Coronavirus reichen die jetzt erstmals veröffentlichten „10 Must-Knows aus der Biodiversitätsforschung“. Die Bestandsaufnahme zum Erhalt der Natur als Lebensgrundlage des Menschen wurde von insgesamt 45 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Leibniz-Forschungsnetzwerks Biodiversität sowie Kolleginnen und Kollegen erstellt. Im Vorfeld des Weltnaturgipfels, der UN Biodiversity Conference im chinesischen Kunming, soll der Report zum Dialog einladen, so die Forschenden. Zugleich stellen sie konkrete Forderungen an die Politik.

„Wenn wir so weitermachen wie bisher, ruinieren wir die Grundlagen unseres Lebens auf diesem Planeten“, erklärt Kirsten Thonicke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, die das Forschungsnetzwerk koordiniert. „Wichtig ist dabei, nicht auf einzelne Phänomene zu starren, etwa auf eine einzelne vom Aussterben bedrohte Art, sondern auf die Zusammenhänge. Am Ende geht es um unsere Luft zum Atmen, unser Wasser zum Trinken. Wir wollen Mut machen, die Herausforderungen anzupacken. Je länger wir zögern, desto schwieriger und teurer wird es – hier gibt es eindeutige Parallelen zur Klimathematik.“

Aktuelle Bestandsaufnahme zur biologischen Vielfalt

  1. „Klima- und Biodiversitätsschutz zusammen verwirklichen“: Ökosysteme an Land und die Ozeane haben in den vergangenen zehn Jahren etwa 55% des vom Menschen verursachten Ausstoßes von CO2 Bei einer Zerstörung von Ökosystemen wie Mooren oder Wäldern werden große Mengen Treibhausgas freigesetzt. Intakte Ökosysteme nützen also dem Klima. Umgekehrt nützt ein stabiles Klima auch der Biodiversität. Das Aussterberisiko tropischer Arten könnte halbiert werden, wenn die globale Erwärmung unter 2°C gehalten wird und ein Drittel der Landfläche geschützt würden. Beides ist international vereinbart bzw. wird gerade verhandelt, es fehlt hauptsächlich an der Umsetzung.
  2. „Planetare Gesundheit stärken“: 75% der neu auftretenden Infektionskrankheiten – darunter aktuell Corona – sind Zoonosen, werden also von Tieren auf Menschen übertragen. Dies kann geschehen, wenn Menschen immer stärker in Naturräume eindringen, oder auch in der Massentierhaltung, die oft schon durch den Anbau von Futter auf neuen Agrarflächen zur Naturzerstörung beiträgt. Ökosysteme schützen und Massentierhaltung mindern, kann also direkt und indirekt der Gesundheit von Mensch und Natur nützen.
  3. „Unsichtbare Biodiversität beachten“: Elefanten oder Tiger möchten alle schützen, das Leben unter der Oberfläche stirbt unsichtbar. In Flüssen und Seen ist die Menge größerer Wirbeltiere um 84% zurückgegangen. Über das Bodensterben von Mikroorganismen muss dringend mehr geforscht werden. Die Kleinstlebewesen unter der Erde sind wichtig für alles, was auf der Erde wächst.
  4. „Biokulturelle Lebensräume fördern“: Ein Großteil der noch 5.000 indigenen Völker ist als Jäger, Sammler, Fischer auf eine intakte Natur angewiesen. Biodiversität und kulturelle Vielfalt liegen eng beieinander, so werden 70% aller Sprachen auf nur 24% der Erdoberfläche gesprochen, die auch eine große Artenvielfalt aufweisen. Verlieren wir die Sprachen, verlieren wir auch Wissen über die Artenvielfalt und ihre Einbettung in die Umwelt.
  5. „Wald nachhaltig nutzen“: Nach drei Dürrejahren 2018-2020 haben 79% aller Bäume in deutschen Wäldern ein weniger dichtes Blattwerk. Viele Wälder werden durch Klimastress anfälliger für Insektenfraß oder Feuer. Zugleich gelten Wälder als Lieferanten klimafreundlicher Rohstoffe, weil Bäume CO2 aus der Luft holen und im Holz speichern. Der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der Nachhaltigkeit muss hier neu ausbuchstabiert werden, die Wälder brauchen Management etwa durch Zertifizierung, Neupflanzung resilienter Arten, oder auch nur durch die Unterstützung natürlicher Waldentwicklung.
  6. „Landwirtschaft umbauen“: Die Erzeugung von Lebensmitteln für die Menschheit, eine enorme Leistung, trägt mit Monokulturen sowie zu viel Gift und Dünger vielfach zum Artentod bei. Auf 40% der globalen Ernteflächen wachsen nur wenige Getreidesorten, nämlich Mais, Weizen, Reis. Zugleich gelten fast 40% der pflanzlichen Vielfalt als vom Aussterben bedroht. Damit Bäuerinnen und Bauern Biodiversität erhalten, brauchen sie finanzielle Anreizsysteme und Beratung etwa durch deutsche oder EU-Agrarpolitik.
  7. „Land und Ressourcen schützen“: 77% der Landflächen weltweit, die eisbedeckte Antarktis einmal ausgenommen, sind heute durch die menschliche Nutzung bereits stark verändert. Naturräume müssen deshalb dringend geschützt und zusätzlich Flächen renaturiert werden, wenn sie weiter ihre Ökosystemleistungen erbringen und zum Klimaschutz beitragen sollen. Diese Leistungen in Euro und Cent zu fassen, um sie zu managen, ist nicht leicht. Es ist derzeit unklar, wieviel Ressourcenverbrauch sich die Menschheit noch leisten kann. Aber: Möglichst wenig, wenn sie Risiken minimieren will.
  8. „Transnationale Infrastrukturen und Bildung für Nachhaltigkeit ausbauen“: Entlang von Lieferketten und in weltweiten Produktionsnetzen kommt es oft zu Schäden der Natur. Strategien wie die der EU zum Schutz der Biodiversität müssen daher grenzüberschreitend angelegt sein. Es kommt aber auch auf die Bürgerinnen und Bürger an. Mehr als 70% aller Biodiversitätsdaten weltweit werden von Menschen erfasst, die außerhalb der Wissenschaft aktiv sind. Citizen Science wächst.
  9. „Zugang und offene Nutzung von Forschungsdaten sichern“: Das Teilen von Daten ist Grundlage für wirksames Management von Biodiversität. So bietet heute eine einschlägige Datenbank der INSDC (Internationale Vereinigung der Gensequenzdatenbanken) bereits mehr als eine Trillion Gensequenzen zur weltweit freien Nutzung – sie helfen dabei, durch Genvergleich neue Arten zu identifizieren oder bei bekannten Organismen Veränderungen festzustellen, etwa bei Krankheitserregern. Eine Beschränkung des Datenzugangs hindert Forschungsfortschritt, mehr Digitalisierung fördert ihn.
  10. „Biodiversitätsfreundliche Anreize setzen“: Rund 140 Milliarden US-Dollar werden weltweit jährlich für den Schutz der Artenvielfalt ausgegeben, aus öffentlichen und privaten Mitteln – aber 500 Milliarden an öffentlichen Subventionen plus geschätzte 2.600 Milliarden an privaten Investitionen in Sektoren, die der Artenvielfalt schaden. Ändern könnte sich diese Schieflage, wenn der Finanzsektor bei Abschätzungen von Investitionsrisiken die Auswirkungen auf die Biodiversität mit einbeziehen würde, so wie das bereits mit den Auswirkungen auf das Klima zunehmend der Fall ist. Dies wäre ein wichtiger Hebel für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Wissenschaftler:innen aus den folgenden Instituten spielten eine führende Rolle bei den „10 Must-Knows from Biodiversity Science“:

Leibniz-Forschungsnetzwerk Biodiversität:

  • Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung
  • Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft
  • Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft
  • Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien
  • Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenanbau
  • Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei
  • Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung
  • Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung
  • Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung
  • Museum für Naturkunde, Leibniz-Institut für Evolutions- und Biodiversitätsforschung
  • Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung

Weitere Einrichtungen:

  • Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung
  • Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig
  • Universität Zürich

Stimmen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die federführend an den „10 Must-Knows“ zur Biodiversität mitgewirkt haben:

Aletta Bonn, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und Deutsches Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung: „Wir müssen die Biodiversitätskrise gemeinsam mit der Klima- und Gesundheitskrise angehen. Biodiversität fördert unsere Gesundheit – zum Beispiel durch Nahrungsmittel, Arzneimittel oder durch natürliche Klimaregulation. Wir wissen, Vogelgesang und Bäume vor unserer Haustür steigern unsere Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit, und Schutz von Ökosystemen bedeutet aktive Pandemieprävention. Hier gibt es viele Synergien – Natur tut gut!“

Stephanie Kramer-Schadt, Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung: „Die Bedeutung der Gesundheit von Wildtieren für die menschliche Gesundheit und funktionierende Ökosysteme wurde in den globalen Gesundheits- und Biodiversitätsstrategien weitgehend übersehen. Aus diesem Grund müssen Wildtier- und Umweltaspekte sehr viel stärker in die Prioritätensetzungen und Pläne für die Sicherung unserer eigenen Gesundheit einbezogen werden. Die Gesundheit des Planeten hängt davon ab, dass das Netz des Lebens vielfältig ist – nicht nur, wenn es darum geht, Krankheitserreger in Schach zu halten, sondern auch im Hinblick auf die Ernährung und das Klima.“

Andreas Graner, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung: „Als eine der weltweit größten Einrichtungen ihrer Art leistet die bundeszentrale Ex-situ-Genbank wichtige Beiträge zum Erhalt der Diversität wichtiger Kulturpflanzen und wildverwandter Arten. Die Erforschung dieser Vielfalt liefert die Grundlagen für die Züchtung von Nutzpflanzen für eine klimaangepasste, die natürlichen Ressourcen schonende Landwirtschaft. Die wissensbasierte Nutzbarmachung von Biodiversität schafft uns Zukunftsoptionen.“

Daniel Müller, Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien: „Ein wichtiger Auslöser für den Verlust an Biodiversität sind unausgewogene wirtschaftliche Anreize und Marktversagen. Politische Maßnahmen, die schädliche Subventionen abbauen, den ökonomischen Wert der Biodiversität in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung einfließen lassen und Investitionsanreize für Erhaltung und Wiederherstellung der biologischen Vielfalt schaffen, sind für die Lösung der Biodiversitätskrise von entscheidender Bedeutung.“

Sibylle Schroer, Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei: „Investitionen in den Artenschutz sind oftmals von Empathie getragen. Mit Arten, die wir nicht sehen, die Krankheiten übertragen könnten oder die in Lebensräumen leben, die uns fremd sind, fühlen wir uns natürlicherweise weniger verbunden. Der menschliche Fokus liegt vor allem auf dem, was wir selbst wahrnehmen können. Das führt zum Beispiel dazu, dass wir nächtliche Beleuchtung als Treiber des globalen Wandels stark unterschätzen – denn natürliche Nachtlandschaften sind uns fremd geworden. Der Blick auf solche unbeachteten Lebensräume ist aber grundlegend für den Schutz der Arten, die uns am Herzen liegen.“

Tonjes Veenstra, Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft: „Der Lebensraum indigener Völker wird durch Abholzung und Ausbeutung zunehmend kleiner. Aber es ist nicht nur der Verlust der dortigen Artenvielfalt, der Sorgen macht. Auch ihre Sprachen, und damit das Wissen über Flora und Fauna, sind hochgradig gefährdet. Für das Fortbestehen dieser Sprachgemeinschaften ist der legale Landbesitz für indigene Völker von entscheidender Bedeutung, damit die Menschen die Kontrolle über ihren Lebensraum behalten. Das führt zu einem diverseren und gesünderen Planeten für uns alle.“

Barbara Warner, Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft: „Schutz und Entwicklung von Landschaften, Ökosystemleistungen und Natur sind umfassende gesellschaftliche, politische und ökonomische Ziele und Herausforderungen zugleich – und zentrale Anliegen einer nachhaltigen Raumentwicklung.“

Wolfgang Wende, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung: „Es reicht bei weitem nicht mehr aus, Landschaften, Ökosysteme und Biodiversität nur zu schützen. Der Verlust von biologischer Vielfalt ist bereits so weit fortgeschritten, dass neben einem wesentlich strengeren Schutz Ökosysteme und Lebensräume auch umfangreich wiederhergestellt werden müssen. Ein Netto-Gewinn an biologischer Vielfalt sollte Ziel unserer Gesellschaft sein.“

Hintergrundinformationen:

Quelle: Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibniz-IZW)