Klima im Wandel! Jagd im Wandel?

Wildtiermanagement für den Wald der Zukunft. Claus Peter Müller von der Grün im Interview mit Prof. Dr. Niko Balkenhol.

Ein Stück Rehwild im Eichenwald. (Symbolbild: Daniel Mačura)
Ein Stück Rehwild im Eichenwald. (Symbolbild: Daniel Mačura)

Ein Beitrag von HessenForst

Der Mensch nimmt – zumal im Anthropozän – auf vielfältige und komplexe Weise Einfluss auf das gesamte Ökosystem und mithin auch auf den Wald, die Offenflächen und den Wildbestand; und ohne Frage ist die Jagd ein Instrument des Wildtiermanagements und mittelbar des Waldbaus. Aber die Vorstellung, allein mit der Jagd die Wildbestände regulieren zu können, ist aus wissenschaftlicher Sicht äußerst diskussionswürdig. Sicherlich hat die Jagd einen Einfluss auf die Entwicklung von Wildbeständen, doch kann dieser von vielen komplexen und interagierenden Faktoren überlagert werden. Teilweise wissen wir noch zu wenig über diese komplexen Zusammenhänge, um mit hinreichender wissenschaftlicher Genauigkeit verlässliche Aussagen über die Jagd als wirksames waldbauliches Instrument treffen zu können. Weitere Forschung ist dringend nötig und vor allem eine Erfolgskontrolle im bisherigen Wildtiermanagement ist essenziell. Das ist das Fazit eines Gesprächs, mit Prof. Dr. Niko Balkenhol über die Frage nach der »Jagd im Klimawandel«.

Der Austausch mit dem Wissenschaftler ruft die Erkenntnis in Erinnerung, dass unsere Kulturlandschaft schon seit so langer Zeit vom Menschen geprägt wird, dass der anthropogene Einfluss aus unserem Ökosystem nicht mehr wegzudenken ist. Erkenntnisse, die in der weithin unberührten Natur Nordamerikas oder des nördlichen Skandinaviens über das Leben von Wildtieren und deren Rückkehr in die Natur gewonnen werden, können wir daher nicht oder nur bedingt auf die mitteleuropäische Kulturlandschaft übertragen, berichtet Balkenhol. So wird zum Beispiel der Wolf, der nach Deutschland zurückkehrt, seinen Hunger nicht allein an Wildtieren stillen, sondern auch an Weidetieren, die ihm hier – im Gegensatz zu weniger vom Menschen genutzten Landschaften – gleichsam dargeboten werden.

Das Reh- und Schwarzwild, beschreibt Balkenhol eine von vielen Wechselwirkungen, seien Gewinner der modernen Kulturlandschaft. Bis zur Revolution 1848 sei das Rehwild eher selten gewesen. Doch die im historischen Verlauf zunehmend ertragsoptimierte Landwirtschaft biete nicht nur dem Wild mehr Nahrung, sondern begünstige mit dem Stickstoffeintrag in die Natur auch das Wachstum des Waldes. Im Rückblick auf die vergangenen 100 bis 150 Jahre nehme in ganz Europa die pflanzliche Biomasse zu, und seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs werde immer mehr Strecke gemacht. Dies liege einerseits daran, dass es tatsächlich mehr Wild gebe, aber auch daran, dass in vielen Teilen Europas das Schalenwild dezimiert werden soll und daher immer stärker bejagt werde. Doch allein die stärkere Bejagung führe nicht zu einem Rückgang der Populationen. Der Eingriff des Menschen ins globale Ökosystem verändert das Klima. Der Klimawandel hat wiederum direkte und indirekte Effekte auf den Lebensraum der Wildtiere und damit auch auf deren Populationen.

Die Winter werden wärmer und die Übergangszeiten milder. Der Klimawandel lässt die »Wintermortalität« unter den Wildtieren sinken, obschon es dazu kaum valide Zahlen gebe, wie Balkenhol eine der ungezählten ausstehenden Forschungsaufgaben im Gespräch anklingen lässt. Auch die Entwicklung der Pflanzen nach der Winterpause setze heute je nach Region um zehn bis 30 Tage früher ein, womit den Wildtieren und ihrem Nachwuchs immer früher im Jahr ein größeres Nahrungsangebot zur Verfügung stehe. Schon habe sich der »Setzzeitpunkt« beim Rotwild verschoben: Hirschkühe in Schottland bringen den Nachwuchs heute etwa zwei Wochen früher zur Welt, als noch in den 1980er Jahren. Indirekte Effekte auf die Wildtierpopulation haben die extremen Wetterereignisse wie Starkregen, Stürme, Dürre und die Folgen des Schädlingsbefalls. Auf den großen Schadflächen ist die Bejagung zunächst oft erschwert, gleichzeitig stellt sich rasch eine Naturverjüngung ein, die dem Wild beste, relativ holzfreie Nahrung bietet. Untersuchungen aus dem Nationalpark Bayrischer Wald zeigen nach Balkenhols Worten, dass diese Veränderung des Lebensraums keinen Kurzzeiteffekt nach sich zieht, sondern die Schadereignisse für das Rotwild zu einer Lebensraumverbesserung für mindestens 25 Jahre führen. Nicht allein wegen des schon seit mehr als hundert Jahren verbesserten Nahrungsangebots für die Wildtiere, sondern auch wegen der direkten und indirekten Effekte des Klimawandels werden die Wildtierbestände also weiterhin wachsen, folgert Balkenhol.

Die Jagd, sagt der Wissenschaftler, werde sich darauf einstellen müssen, denn ohne Jagd seien die waldbaulichen Ziele eines klimaresilienten Mischwalds nicht zu erreichen. Die Jagd wiederum, fordert Balkenhol, sei umfassender als bisher zu betrachten und zu gestalten. Es gehe um Wildtiermanagement. Es gelte, »die Tiere in Raum und Zeit zu steuern«. Die Jagd sei nur eines von vielen Instrumenten im Wildtiermanagement. Auf bestimmten Flächen, auf denen zum Beispiel aufgeforstet wird, sei das Wild intensiv zu bejagen. Das Wild müsse das Mortalitätsrisiko realisieren. Balkenhol spricht von einer »Landschaft der Angst«. Zugleich sollten dem Wild auf weniger sensiblen Flächen sowie außerhalb des Waldes Ruheräume zum Ausweichen gewährt werden. Auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in der Oberpfalz werde zum Beispiel Rotwild intensiv im Wald bejagt, die umliegenden Offenlandflächen dienten als jagdfreier Entlastungsraum. Aufgrund des räumlich heterogenen Jagd drucks verlässt das Wild den Wald und nutzt stattdessen die naturschutzrelevanten Offenflächen, die durch die Fraßeinwirkung noch gefördert werden. Das bedingt eine »Win-Win«-Situation für Wild und Artenschutz. Balkenhol spricht von einer »Raumplanung« für die Wildpopulationen, die weit über den Wald hinausgeht.

Mithin fordert der Wissenschaftler die Plastizität oder Lernfähigkeit der Wildtiere ins Kalkül zu ziehen. Die Tiere realisieren eine Gefahr und geben das Wissen teilweise auch an die nachfolgende Generation weiter. Im hessischen Nationalpark Kellerwald-Edersee befasste sich eine Studentin in ihrer Masterarbeit mit Störversuchen. Sie hat Rotwild mit Sendern ausgestattet und festgestellt, dass Besucher, die auf den Wegen bleiben, die Tiere nicht aus der Ruhe bringen. Bleiben die Menschen aber nicht auf den Wegen und bewegen sich in Richtung der Tiere, setzt das Rotwild zu einer teils kilometerweiten Flucht an. Außerdem meidet das Rotwild tagsüber die Nähe zu Wegen. Somit beeinflussen nicht nur Jäger und ihre Waffen das Verhalten von Wildtieren, sondern auch Waldbesucher, und insbesondere dann, wenn diese sich nicht an das Wegegebot halten.

Tiere ändern ihre Lebensweise und passen sich an veränderte Umweltbedingungen an. Die Amsel ist schon seit Dekaden kein scheuer Waldvogel mehr, Hasen leben nicht nur auf steppenähnlichen Flächen, sondern auch im Wald, Wildkatzen leben nicht nur im Wald, wie man früher dachte, und Rehwild frisst nach neuen Erkenntnissen wesentlich häufiger Gräser, als dies in alten Textbüchern beschrieben wird. Unverzichtbar ist es aus Sicht des Wildtierwissenschaftlers Balkenhol, ein Erfolgsmonitoring im Wildtiermanagement aufzubauen, damit vermeintliches Wissen und Forschungshypothesen in der mit Emotionen und tradierten Vorstellungen hoch aufgeladenen Jagd endlich verifiziert oder falsifiziert werden können.

Schließlich, räumt Balkenhol ein, sei im Wildmanagement auch der unmittelbare anthropogene Faktor, der Einfluss und das Verhalten des Menschen zu berücksichtigen. Unter den Jägerinnen und Jägern vollziehe sich ein Einstellungswandel. Immer mehr junge Menschen jagten nicht der Trophäen wegen, sondern weil sie zu Fleisch gelangen wollten, das nicht aus einer für sie fragwürdigen Massentierhaltung stamme. Und die Waldeigentümer – wie die Landesforsten – sollten sich fragen, ob das Erzielen einer hohen Pachteinnahme für ein bestimmtes Revier das richtige strategische Ziel sei, oder ob eine waldbauliche Zielsetzung der Jagd in der Gesamtschau nicht den weit größeren Gewinn für den biodiversen, klimaresilienten und nachhaltig bewirtschafteten Wald und damit auch für die Staatskasse bringe.

Quelle: HessenForst