„’Wald vor Wild‘ ist eine Lüge an sich“

In „Das Reh – über ein sagenhaftes Tier“ skizziert Rudolf Neumaier die Kulturgeschichte eines Wesens mit umstrittenem Ruf. Neumaier ist Journalist, Geschäftsführer des Bayerischen Landesvereins für Heimatpflege in München und Träger des DJV-Journalistenpreises. Der DJV hat mit ihm über sein Debüt gesprochen.

Träger des DJV-Journalistenpreises und Autor Rudolf Neumaier. (Quelle: Namberger/DJV)
Träger des DJV-Journalistenpreises und Autor Rudolf Neumaier. (Quelle: Namberger/DJV)

DJV: Wie kommt es, dass Rehe Sie derart in ihren Bann gezogen haben, dass Sie ihnen ein Buch widmen?

Rudolf Neumaier: „Ich kenne die Tiere aus meiner Kindheit, meine ersten Begegnungen beschreibe ich auch in meinem Buch. Rehe faszinieren mich, ich kann sie stundenlang beobachten. In meinen Recherchen für meine journalistische Arbeit habe ich festgestellt, dass sich das Narrativ ‚Es gibt zu viel Wild, das dem Wald schadet‘ seit mehr als 50 Jahren hält. Dieses Narrativ wird heute noch von Förstern multipliziert, weil Jäger sich weniger meinungsstark äußern. Das hat meinen Beschützerinstinkt geweckt. Selbst in ökologisch bewirtschafteten Wäldern, in denen Rehe scharf bejagt werden, finden sich Schutzmaßnahmen für Jungpflanzen. Forstliteratur aus dem 18. Jahrhundert belegt, dass es früher selbstverständlich war, kultivierte Pflanzen zu schützen. Sogar der römische Dichter Vergil beschreibt Schutzmaßnahmen für Wein in der Antike.“

Das Reh wird in bestimmten Kreisen als Feind des Waldes dargestellt und mit einem Schädling wie dem Borkenkäfer gleichgesetzt. Wie ist Ihre Meinung zur Debatte um „Wald vor Wild“?

„Renommierte Wissenschaftler wie der österreichische Professor Friedrich Reimoser zeigen, dass ‚Wald vor Wild‘ eine Lüge an sich ist. Es gibt einen Forst-Jagd-Konflikt, das leuchtet mir ein. Aber was mir nicht einleuchtet ist, warum man von deutschsprachigen Wissenschaftlern wie Reimoser in Deutschland so gut wie nichts liest. Die Debatte bei uns ist sehr einseitig und wird dominiert von den Förstern, die in der Ausbildung nichts anderes zulassen als Wald vor Wild. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, aber die Mehrheit lernt: nur ein totes Reh ist ein gutes Reh. Traditionelle Jäger werden als Jagdtölpel dargestellt. Ich verstehe nicht, wieso sich die Jäger das schon so lange gefallen lassen.“

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass es um das Reh schlecht bestellt ist: Was meinen Sie damit und was ist ihre Schlussfolgerung?

„Das gilt natürlich nicht für alle Gebiete und auch nicht für ganz Deutschland. Aber es gibt Gegenden, in denen es schlecht ums Reh bestellt ist. Auf meinen Lesungen, wie im Landkreis Traunstein, da kommen Menschen daher und schildern mir, dass sie keine Rehe mehr sehen. Die Populationen sind in einigen Gebieten so dezimiert wie seit 1850 nicht mehr. Die Debatte muss ehrlicher geführt werden und das Tierwohl mit einbezogen werden. Was für Nutzvieh selbstverständlich ist, muss auch für Tiere im Wald wie Rehe und Hirsche gelten. Ich hoffe, dass der Tierschutz das Thema für sich entdeckt. Es muss ein breites Umdenken her, damit sich etwas ändert.“

Quelle: Deutscher Jagdverband (DJV), 9. Februar, 2023 Berlin