„Live fast, die young“: Landwirtschaft verändert ganze Ökosysteme

Organismen-Gemeinschaften passen sich laut neuer Studie kollektiv an Graslandnutzung an

In nährstoffarmen, ungestörten Lebensräumen dominieren langsame „Schildkröten“-Organismen, in nährstoffreichen dagegen schnelle „Hasen“. Durch die landwirtschaftliche Nutzung werden immer mehr Ökosysteme weltweit beschleunigt. (Foto: Manning/Senckenberg)
In nährstoffarmen, ungestörten Lebensräumen dominieren langsame „Schildkröten“-Organismen, in nährstoffreichen dagegen schnelle „Hasen“. Durch die landwirtschaftliche Nutzung werden immer mehr Ökosysteme weltweit beschleunigt. (Foto: Manning/Senckenberg)

Ein Forschungsteam um Prof. Dr. Peter Manning vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt und Dr. Margot Neyret von der Universität Grenoble Alpes hat die Auswirkungen landwirtschaftlicher Graslandnutzung auf Organismen-Gemeinschaften untersucht. Ihre jetzt im wissenschaftlichen Fachjournal „Nature Communications“ veröffentlichte Studie zeigt erstmals, dass Eingriffe wie Düngung und Mahd Lebewesen auf allen Ebenen eines Ökosystems – und über sämtliche Nahrungsketten hinweg – beeinflussen und damit das gesamte System beschleunigen.

Überall in der Natur sind Lebewesen an die Bedingungen ihres Lebensraums angepasst. Je nach Umfeld setzen sie auf Strategien von schnellem oder langsamem Wachstum, größere oder geringere Körpergröße und pflanzen sich unterschiedlich häufig fort. Zwei Faktoren sind dabei entscheidend: die Verfügbarkeit von Nährstoffen und das Ausmaß „störender“ äußerer Einflüsse. „Man kann sich das vorstellen wie in der Fabel vom Hasen und der Schildkröte – nur dass je nach Umgebung mal Organismen mit der einen Strategie ‚das Rennen gewinnen‘ und mal die anderen“, erläutert Prof. Dr. Peter Manning vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt (SBiK-F) und fährt fort: „In ungestörten, nährstoffärmeren Ökosystemen setzen sich langsamere Organismen – die ‚Schildkröten‘ – durch: Sie gehen sparsamer mit ihren Ressourcen um, wachsen gemächlicher und pflanzen sich weniger häufig fort, sind dafür aber größer und leben länger. Unter nährstoffreicheren Bedingungen haben dagegen die schnelleren ‚Hasen‘ die Nase vorn – diese Organismen sind tendenziell kleiner und haben einen höheren Nährstoffumsatz, bei geringerer Lebenserwartung und höherer Reproduktionsrate. In unserer Studie konnten wir nun erstmals zeigen, dass die intensive landwirtschaftliche Nutzung von Grasland dazu führt, dass sich auf allen Ebenen eines Ökosystems die ‚Hasen‘ durchsetzen.“

Von Pflanzen und Schmetterlingen… (Foto: Manning/Senckenberg)
Von Pflanzen und Schmetterlingen… (Foto: Manning/Senckenberg)
…bis hin zu Pilzen und Mikroorganismen im Boden: In landwirtschaftlich genutztem Grasland setzen sich im gesamten Ökosystem Lebewesen mit „schnelleren“ funktionalen Strategien durch. (Foto: Manning/Senckenberg)
…bis hin zu Pilzen und Mikroorganismen im Boden: In landwirtschaftlich genutztem Grasland setzen sich im gesamten Ökosystem Lebewesen mit „schnelleren“ funktionalen Strategien durch. (Foto: Manning/Senckenberg)

In ihrer Arbeit werteten die Forscher eine Fülle von Daten aus, die im Rahmen des Projekts „Biodiversitäts-Exploratorien“ für Flächen auf der Schwäbischen Alb, der mitteldeutschen Hainich-Region und dem Brandenburgischen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin erhoben wurden. „Dabei wurden Organismen aus allen Bereichen der beprobten Ökosysteme untersucht – von den Mikroorganismen im Boden über Pflanzen, Schmetterlinge und andere Gliederfüßer bis hin zu Vögeln und Fledermäusen“, berichtet Dr. Margot Neyret, vormals wissenschaftliche Mitarbeiterin am SBiK-F und heute an der französischen Universität Grenoble Alpes tätig, und weiter: „Für nahezu alle Organismen konnten wir Auswirkungen durch die landwirtschaftliche Bewirtschaftung in Form von Düngung, Mahd und Beweidung feststellen. Im Vergleich zu den unbewirtschafteten, naturbelassenen Flächen dominierten hier Organismen, die der Strategie ‚schnell wachsen, jung sterben‘ folgen – das ganze Ökosystem war in diesen Fällen ‚schneller‘ geworden. Teils durch den direkten Einfluss der veränderten Ressourcen und Umweltbedingungen, teils durch vermittelte, kaskadenhafte Effekte innerhalb von Nahrungsketten. Je nach Intensität der Nutzung verteilen sich die untersuchten Ökosysteme dabei auf einer Achse von ‘langsam‘ zu ‚schnell‘. Nur bei wenigen größeren Tieren und Bodenorganismen konnten wir diesen Effekt nicht beobachten.“

Wie die Studie zeigt, wirkt sich die landwirtschaftliche Nutzung dabei auch auf verschiedene Ökosystemfunktionen aus, die von den Organismen geleistet werden – auch sie wurden entsprechend der Intensität der Bewirtschaftung „schneller“. „In den beschleunigten Ökosystemen laufen beispielsweise auch Prozesse wie Zersetzung, Biomasseproduktion oder der Nährstoffkreislauf zügiger ab“, erklärt Manning und fährt fort: „Aus Sicht des Menschen sind solche Systeme zunächst einmal landwirtschaftlich produktiver und ertragreicher. Allerdings könnte so ihre Fähigkeit zur CO2-Speicherung vermindert werden. Gleichzeitig führt hier eine erhöhte Nährstoffversickerung zu mehr Verschmutzung. Ungestörte, naturbelassene Ökosysteme weisen dagegen tendenziell eine höhere Biodiversität auf und sind widerstandsfähiger. Das spielt auch mit Blick auf klimabedingt zunehmende Extremwetterphänomene eine Rolle.“ Neyret ergänzt: „Durch die zunehmend intensive Landwirtschaft beschleunigen wir wahrscheinlich Ökosysteme auf der ganzen Welt. Wir wissen aus anderen Studien, dass es vergleichsweise leicht ist, ein Ökosystem durch Düngung zu beschleunigen –es wieder in seinen ursprünglichen ‚langsamen‘ Zustand zurückzuversetzen dauert dagegen deutlich länger. Wir verlieren so immer mehr langsame Systeme mit ihren spezifischen Organismen und Funktionen. Im Sinne der Vielfalt – und auch mit Blick auf die Herausforderungen durch den Klimawandel – sollten wir hier unbedingt gegensteuern.“

Publikation: Neyret, M., Le Provost, G., Boesing, A.L. et al. A slow-fast trait continuum at the whole community level in relation to land-use intensification. Nat Commun 15, 1251 (2024).
https://doi.org/10.1038/s41467-024-45113-5