Ein verwaister Frischling
Oder die Geschichte einer späten Wiedergutmachung
Es war Anfang April – überall läuteten unter klarem blauem Himmel die Kohlmeisen – ein Tag, der nicht anders als im Revier verbracht werden konnte. Zum Fließ zog es mich, dort wo der Sumpfdotter jetzt in gelben Blüten stand und gelegentlich der Eisvogel pfeilschnell über die kräuselnden Wasser flog – auf der Suche nach Beute und einem umgestürzten Wurzelteller für seine Brut. Auch Schwarzstörche wateten manchmal im Strom entlang – so wie der Eisvogel den Fischreichtum überaus schätzend.
Überall waren jetzt die Spuren der Sauen zu sehen, umgebrochene Wege, dunkle humose Flächen allerorten im Bruch und in der Nähe des Fließes alle paar dutzend Meter frische angenommene Suhlen. Hier, in den ruhigen Revierpartien fühlte sich das Schwarzwild pudelwohl und war manchmal auch unter Tage auf den Läufen. Im Frühling schweigt hier immer die Büchse – die Geburtsmonate der Sauen sind hier waffenlose Zeit. Zehn Monate scheinen mir immer noch mehr als lang genug zu sein, um Schwarzwild effektiv zu bejagen.
So zog ich an den vielfältigen Spuren der Schwarzkittel vorüber in Richtung der großen Wiesen, als eine kleine Bewegung mich aufblicken ließ. Ein kleiner, beiger Schatten schleppte sich offenbar sehr müde über den dunklen Moorboden: ein einsamer Frischling. Auf sehr wackeligen Beinen stakste er offenbar alleine durch die Weite der Niederung. Hellwach und sorgfältig schaute ich mich um – überall roch es nach Sau, das ganze Bruch um mich herum ein einziger von Schweinen gestalteter Wald. Und doch war im Umkreis des Frischlings, im jetzt noch übersichtlichen und lichten Frühlingswald, kein weiteres Stück Schwarzwild zu sehen. Eigenartig. In diesem Alter, ich schätzte den Frischling auf ca.1,5-2 Wochen lassen Sauen ihre Frischlinge nie allein, es sei denn in der Obhut des Kessels. Frisch abgesprengte Frischlinge sind in der Regel so vital, daß sie blitzschnell die Flucht ergreifen und möglichst bald zur Mutterbache zurückkehren. Nichts von alledem traf auf diesen Frischling zu, der sich, immer noch sehr holprig, langsam von mir entfernte. An eine der starken Erlen gelehnt wartete ich noch eine Viertelstunde, jeden Augenblick mit einer blasenden Sau oder einer aufgeregten Rotte rechnend – nichts tat sich.
Der Frischling hatte sich inzwischen niedergetan, blinzelte sehr schläfrig und verhielt sich still. Langsam machte ich mir Sorgen um den kleinen Kerl – er hatte offensichtlich schon länger keine Milch mehr bekommen und war mächtig abgemagert. Was tun? Ich konnte ihn seinem Schicksal überlassen gewiss – der Lauf der Natur kennt meist keine Pflicht zum sozialen Handeln und Kolkrabe oder Habicht, Fuchs oder Dachs hätten es mir sicherlich gedankt. Der eigene Kochtopf wäre auch noch eine Alternative gewesen – doch es ist viel einfacher den Frischling mit der fernen Kugel zu erlegen als ihn mit dem Messer oder der Hand zu „fällen“. Abgesehen davon: ein zwei Wochen alter Frischling? – ein wohl eher karges Mahl.
Ich sah den kleinen Frischling vor mir, dort zwischen den vorjährigen Horsten großer Seggen – überließ ich ihn seinem Schicksal, weil es die Natur so wollte? Doch bitteschön, welche Natur sollte das hier denn sein – die des undisziplinierten Schwarzwildjägers, der möglicherweise die Bache erlegt hatte und dessen einziger Zeuge wohl nur der volle Aprilmond war?
So reifte in mir der Entschluss, schlicht von menschlichen Emotionen getragen, dieses kleine Wildschwein mitzunehmen und in gute Hände zu überführen. Ich hatte keine Ahnung wo und wie, aber dass ich ihn mitnahm, ja mitnehmen musste, war nun gewiss. So sprintete ich denn durch den Erlenbruch und der Kleine mobilisierte die letzten Kräfte. Er kam zum Bach – halb schwamm, halb watete er hinüber, kam aber, da ihn die Kräfte verließen die jenseitige Böschung nicht hinauf. Mit einem Satz war ich drüben, sogleich trat der Frischling den Rückweg an. Ich übersprang abermals den Bach und nach knapp zehn Metern ergriff ich ihn im Bruch – herzzerreißendes Quieken und Zittern am ganzen Leib. Ich nahm ihn unter die Jacke und hielt ihn ganz nah an den Körper, um ihn zu wärmen. Nach wenigen Minuten hörte er auf zu quieken und nach knapp einer halben Stunde hörte ich tiefe Atemzüge – er war eingeschlafen.
Wie müde musste er sein, dass er in der wohl aufregendsten und gefährlichsten Stunde seines kleinen Lebens einschlafen konnte? Es war ein sehr seltsames Gefühl mit einem schlafenden kleinen Frischling unter der Jacke durch den Wald zu schreiten – ein warmes gestreiftes Wesen auf dem Bauch und immer den Geruch von Sauen in der Nase. Wie lange mochte er schon alleine gewesen sein, wo waren seine Geschwister, wo seine Mutter? Und wieder die Frage was ich hier überhaupt tat? Übertriebene Gefühlsduselei, vor allem die gegenüber „verhätschelt gequälten“ Hunden und Katzen war mir oft ein Graus. Doch das hier war etwas gänzlich anderes und langsam begriff ich, dass es für mich eine ganz andere, eine sehr beharrliche Motivation war, die mich den kleinen Frischling aufnehmen ließ: Als noch blutjunger Jäger hatte ich einmal eine Bache geschossen, von der ich erst beim Aufbrechen gewahr wurde, dass sie führend war. Am kommenden Morgen saß ich wieder am gleichen Platz – doch keine Spur von den Frischlingen.
Gegen Mittag, während einer Revierfahrt – liefen vier winzige Frischlinge vor uns auf dem Forstweg entlang. Wir versuchten sie mit der Hand zu fangen – vergeblich. Dieses Bild – vier verlassene Frischlinge im hellen Sonnenlicht mitten auf dem Forstweg – brannte sich tief in mein Gedächtnis. Ich sah die vier noch nächtelang vor meinem geistigen Auge hungernd und frierend alleine im Kessel liegen- sie nacheinander leichte Beute für Habicht und Fuchs werden. Um mein Gewissen zu erleichtern, versuchte ich damals Begebenheiten in der Natur zu konstruieren, die diese Situation nicht ganz so widernatürlich erscheinen ließen: Wölfe oder Luchse schlagen eine Bache und lassen die Frischlinge laufen? Eine in der Natur wohl kaum vorkommendes Phänomen, eine nur wenig befriedigende Antwort! Die vom Auto überfahrene Bache schien mir denn auch zivilisationsbedingt, wenn auch wesentlich wahrscheinlicher als die von den Wölfen vernachlässigten Frischlinge. Aber ein überzeugender Gewissenbeschwichtiger wollte mir damals nicht gelingen.
So war es heute vielleicht die Gelegenheit auf sehr eigene und zugegebenermaßen recht späte Art einen Fehler aus der Vergangenheit ein wenig wiedergutzumachen. Der jetzt schlafende Frischling war eine andere, zugegebenermaßen späte „Gewissensberuhigungsspritze“!
P.S.: Der Frischling wurde noch am gleichen Tag in eine Wildauffangstation gebracht und erfüllte als Keiler danach noch jahrelang Vaterpflichten in einem großen Schwarzwildgehege.
Ein Beitrag von Burkhard Stöcker für unseren Premiumpartner, die Stiftung Wald und Wild in Mecklenburg-Vorpommern.