Wenn im Glashaus Querschüsse fallen

Wenn im Glashaus Querschüsse fallen

Ein langjähriges Mitglied erlebt Bayerns Jagdverband in aller Härte

Das Geweih des Hirsches, dem nach der Hegeschau die Unterkieferhälften fehlten (Foto: privat)
Das Geweih des Hirsches, dem nach der Hegeschau die Unterkieferhälften fehlten (Foto: privat)

Nicht nur Bayerns Justiz kannte keine Gnade mit dem alten Herrn, der im Spessart einen kranken Hirsch erlegte, obwohl der Abschussplan bereits erfüllt war. Auch seine Kameraden vom Bayerischen Jagdverband verfolgen den Mann bis heute mit aller Härte.

Erhard Reusch hat keinen Jagdschein mehr. Die letzte Verlängerung hat er gar nicht erst beantragt. Sie wäre ihm verweigert worden wegen eines Gerichtsurteils, das ungewöhnlich hart anmutet im Vergleich zu anderen Fällen. Vor allem, wenn es gegen Förster geht. Speziell im Freistaat Bayern.  

Die Waffen hat der Unterfranke seinem Sohn geschenkt. Das könnte er im Alter von 76 Jahren verschmerzen. Nach einem erfüllten Jäger-Leben. Nach 45 Jagdaufseher-Jahren im Rotwild-Revier. Nach 30 Jahren Leitung der heimischen Hegegemeinschaft. Und nach über 50 Jahren im Bayerischen Jagdverband. 

Was der Lokomotivbetriebsinspektor a.D. nicht verwinden kann, sind die Angriffe auf seine Ehre. Dass ihn manche Leute in seiner Heimatgemeinde Burgsinn schief anschauen seit der Sache mit dem umstrittenen Hirschabschuss. Dass ihm alte Jagdfreunde nur noch dann ermutigend auf die Schulter klopfen, wenn niemand zuschaut. 

Das Unglück begann am Abend des 4. Oktober 2018 in der „Süßen Ruh“. Ein abgelegener Wiesengrund, den Erhard Reusch wie seine Westentasche kennt. 45 Jahre war er Jagdaufseher in dieser Eigenjagd im Norden von Burgsinn. Hat dutzendweise Gäste der Jagdherrin geführt und zahlreiche Gesellschaftsjagden organisiert. 

Dass der Hirsch, der sich um 19.25 Uhr der Fütterung in einer Dickung nähert, sein letzter Hirsch sein sollte, hat sich der alte Jäger da noch nicht träumen lassen: „Zuerst konnte ich nur eine Stange sehen. Aber ich ahnte sofort: Das ist der Hirsch, der seit Tagen regelmäßig den ganzen Trester wegfrisst. Total untergewichtig und stark abgekommen.“

Erhard Reusch (Foto: privat)
Erhard Reusch (Foto: privat)
Erhard Reuschs Jagdkollege, der beim Bergen des Hirschen geholfen hatte, hinter dem erlegten Stück. (Foto: privat)
Erhard Reuschs Jagdkollege, der beim Bergen des Hirschen geholfen hatte, hinter dem erlegten Stück. (Foto: privat)

Erhard Reusch machte den Finger krumm. Der ungerade Zwölfender lag 20 Schritt vom Anschuss. Dass das Tier stark abgemagert war, sah auch der Jagdkamerad, der ihm beim Bergen half, erinnert sich der Erleger. Aber von da an gehen die Erinnerungen an diesen Abend weit auseinander. 

Vor Gericht, wo der Fall landet, gibt es ein Polizei-Protokoll mit der Aussage, Reusch habe im Wirtshaus des neuen Jagdleiters angerufen und einer Kellnerin den Schuss auf ein Stück Schwarzwild gemeldet.

Was der derart Beschuldigte bis heute vehement bestreitet: „Da lag ein Hirsch, vor Zeugen. Den kann ich von einer Sau unterscheiden.“

Wohl ein Mysterium, wie die beiden gebrochenen Unterkiefer-Hälften, die auf der Hegeschau noch unter der Trophäe hingen und mittlerweile verschwunden sind, spurlos. 

Den Richter, erinnert sich der Schütze, habe seinen Einwand, dass es sich um einen Hegeabschuss handelte, ohnehin nicht weiter interessiert. Obwohl der Hirsch nur 95 Kilo wog, statt in diesem Alter üblicher 135 Kilo. Und obwohl die Unterkiefer-Hälften damals vermutlich noch nicht endgültig verschwunden waren. 

Was im Verfahren und beim Urteil zählt, ist die Angabe der Revierinhaberin, sie habe bei einem Treffen zum Gemeinschaftsansitz mitgeteilt, dass der Hirschabschuss fürs laufende Jagdjahr erfüllt sei. Das habe er, sagt Erhard Reusch, damals in locker-lauter Atmosphäre wohl nicht mitbekommen. 

Den Eindruck, dass es sich bei Erhard Reusch um einen „hirschgerechten Jäger“ handelt, teilt bis heute immerhin auch Thomas Schreder, bisher Vize im Bayerischen Jagdverband und dessen Pressesprecher. Viel mehr will der Mann, der auf dem kommenden Jägertag neuer BJV-Präsident werden will, zur Angelegenheit am Telefon nicht sagen. Höchstens noch, dass Herr Reusch von seinem Anwalt „nicht optimal“ beraten wurde. 

Gleich am Tag nach der Gerichtsverhandlung, die ihn den Jagdschein kosten sollte, setzte sich Erhard Reusch in den Zug nach Feldkirchen bei München. In der Zentrale des Bayerischen Jagdverbands wollte er um Hilfe und Rechtsbeistand bitten. Präsident Jürgen Vocke ließ sich wegen dringender Gespräche entschuldigen. Geschäftsführer Joachim Reddemann hatte kurz Zeit, stellte Rechtshilfe in Aussicht und ließ sich die Daten des Mitglieds geben für den Verbands-Rechtschutz. 

Irgendwann bekam BJV-Mitglied Reusch auch Herrn Schreder ans Telefon. Der habe sehr verständnisvoll geklungen. Und er habe einen Satz gesagt, den Jäger Reusch so schnell nicht vergessen wird: „Der Verband ist für seine Mitglieder da, nicht umgekehrt.“ 

Seither hat Erhard Reusch von seinem Verband nichts mehr gehört – bis ihm die Ankündigung eines Disziplinarverfahrens ins Haus flatterte. „Nachdem ich in Feldkirchen schriftlich eine ausführliche Darstellung aus meiner Sicht abgegeben hatte“, erinnert er sich, „dachte ich, dass meine Argumente im Disziplinarverfahren zur Sprache kommen.“ 

Aber dem war nicht so: Der „Disziplinarausschuss Nord“ übernahm weitgehend den Richterspruch das Amtsgerichts Bad Kisingen. Und ergänzte ihn obendrauf um die Feststellung, der Delinquent habe die (mittlerweile spurlos verschollenen) „Kieferteile im Nachhinein manipuliert“, um „einen – nicht gegebenen – Hegeabschuss zu konstruieren“. 

Ergebnis des für Jäger Reusch kostenpflichtigen Disziplinarverfahrens: Ausschluss aus dem Bayerischen Jagdverband nach 54 Mitgliedsjahren. Ein Gespräch über die dem Ausschuss vorliegenden Beweise und die dort erfolgte Wahrheitsfindung lehnt der Vorsitzende des Gremiums gegenüber „Natürlich Jagd“ kategorisch ab. 

In der BJV-Zentrale sagt uns Pressesprecher Thomas Schreder zu, er werde sich die Akte und die Unterlagen vom Disziplinarausschuss Nord kommen lassen und dann näher Stellung nehmen. Auf Nachfragen über Wochen übernimmt BJV-Geschäftsführer Jochen Reddemann. Er teilt mit, das Disziplinarverfahren gegen Erhard Reusch sei nicht zu beanstanden. 

Das gilt laut Reddemann auch für den Umstand, dass der Disziplinar-Berufungsausschuss den Widerspruch des Erhard Reusch wegen Fristüberschreitung für unzulässig hält. Reusch hatte das Einschreiben am 27. Dezember 2019 zur Post gegeben. Die Frist endete am 2. Januar 2020, also sieben Tage später. Aber erst am 3. Januar 2020 war die DJV-Zentrale nach der Weihnachtspause wieder so besetzt, dass der Briefträger die Post aus dem Spessart los werden konnte. 

Im wirklichen (Rechts)leben – etwa mit Behörden – genügt der Nachweis, dass ein Schriftstück rechtzeitig zur Post gebracht wurde. Nach Feiertagen verlängern sich Fristen auf den nächsten folgenden Werktag. Damit, dass ein Verband mit rund 50 000 Mitgliedern und großzügig ausgestatteter Geschäftsstelle zwischen Weihnachten und Neujahr keine Post entgegennimmt, müssen BJV-Mitglieder wohl leben. 

Womöglich hätte Erhard Reusch auch schon vor dem verhängnisvollen Hirschabschuss ahnen können, dass für ihn die vielen guten Jahre im BJV enden. Schon im Jahr 2016 zogen für den langjährigen Kassier dunkle Wolken auf in der Kreisgruppe Gemünden. Es ging um 697, 50 Euro, die Reusch für seine Arbeitseinsätze bei der Grundrenovierung der Verbandsschießanlage „Sauruh“ verbuchte – 15 Euro pro Stunde. 

Gegenüber Firmen-Angeboten wurde die Ertüchtigung der „Sauruh“ durch ehrenamtliche Arbeitseinsätze rund 20.000 Euro günstiger. Gestritten wurde trotzdem – bis hin zu einem Schlichtungsgespräch beim BJV-Bezirksvorsitzenden Enno Pieling. 

Ergebnis der Krisensitzung: Schatzmeister Reusch hätte den vorliegenden Vorstandsbeschluss, dass seine Schießstand-Arbeitseinsätze vergütet werden, formal zwar alle Jahre erneuern lassen müssen, aber am Ende bestand „Einigkeit“ zwischen „den Kassenprüfern und der übrigen Vorstandschaft“, dass „Herr Reusch dem Verein keinerlei finanziellen Schaden zugefügt hat und auch nichts getan hat, was dem Wohle des Vereins zuwider läuft“. 

Trotz Etappensieg, heißt es in höheren Verbandskreisen, hätte Jäger Reusch nach der Schießstand-Affäre gewarnt sein können. Heute ist er schlauer. Er weiß, dass in Jagdsachen vor Gericht nicht nur um die Höhe der Geldstrafe geht (in seinem Fall 2500 Euro), sondern auch um die Anzahl der sogenannten Tagessätze: Ab 60 Tagessätzen ist der Jagdschein futsch. Und er weiß, dass es sehr viel Sinn macht, auch bei alten Jagdkameraden mit Vergesslichkeit zu rechnen.

Was den alten Mann aus Unterfranken nicht daran hindert den Kampf, um seine Jäger-Ehre fortzusetzen. Die Zeitungsartikel über sein Schicksal hat er in Plastikfolie im Ort aufgehängt. Auch mit dem Querverweis, wie glimpflich andere „Wilderer“ im Freistaat Bayern davonkommen. Wie die Förster von Oberammergau, die für 68 Hirsche „über den Durst“ ganze 10.000 Euro bezahlten. 

Oder wie der Förster, der vom Auto aus beim Nachbarn einen Rehbock streckte und das Amtsgericht im bayerischen Mühldorf letztes Jahr im Februar dann mit einem Freispruch verließ, weil „ein Vorsatz nicht nachzuweisen“ war. Er hatte dem Geschädigten ja immerhin die gewilderte Trophäe und 50 Euro als Wiedergutmachung angeboten. 

Eine Gleichbehandlung im Unrecht schließt die deutsche Rechtsordnung aus. Und der BJV hat mittlerweile bekanntlich die Polizei im Haus – und andere Sorgen als 15 Euro Stundenlohn, wenn ein Ehrenamtlicher mal für den Verband zu Hammer und Säge greift. Für Disziplinarverfahren und Fristen-Haarspalterei reicht´s trotzdem noch. 

Gleich nebenan in Hessen, wo Jäger mit dem Staatsforst wegen dramatisch angehobener Rotwild-Abschusspläne im Forstbezirk Jossgrund prozessieren, wäre der „Wilderer“ Erhard Reusch womöglich kein Fall für den Staatsanwalt geworden. Und beim Ökologischen Jagdverbands (ÖJV), der eben erst im Spessart fürs Zeitgeist-Projekt „hunting4future“ ganz groß die Reklame-Trommel rührte, wäre der alte Herr vielleicht längst Ehrenmitglied. Aber er war nun mal sein Leben lang ein hirschgerechter Jäger.

Das Geweih des Hirsches, dem nach der Hegeschau die Unterkieferhälften fehlten (Foto: privat)
Das Geweih des Hirsches, dem nach der Hegeschau die Unterkieferhälften fehlten (Foto: privat)