Pullover statt Glyphosat
Der anhaltende Glyphosat-Streit entlarvt die Sucht nach einfachen Rezepten. Dass diese meist nicht helfen, scheint dem Zeitgeist nicht weiter wichtig. Hauptsache, der Strom kommt aus der Steckdose.
Über Jahrzehnte war das schleichende Verschwinden der Insekten kein Thema für die Massenblätter, obwohl es unser Dasein in der Tat bedroht. Nun sind die Krabbeltiere plötzlich wichtig – und die Chemikalie Glyphosat ist scheinbar der Hauptgrund für die Misere. Mindestens ebenso seriös wäre die Behauptung, dass die Energiewende schuld ist am Artensterben. Weil sich der Frevel rächt, Lebensmittel in Biogasanlagen zu verpulvern.
Lange blieben die Imker sehr einsam, wenn sie auf die verheerenden Folgen des ausufernden Maisanbaus hingewiesen haben. Lange wollte die breite Öffentlichkeit nicht wahrhaben, dass Chemikalien unentbehrlich sind, wenn solche „Öko“-Energie dauerhaft verfügbar sein soll. Die allgemeine Erkenntnis, dass auch Wasserkraftanlagen massiv zum Insektensterben beitragen, lässt bis heute auf sich warten. Nachhaltigkeit zeigt sich vor allem beim Verdrängen unbequemer Wahrheiten.
Da trifft es sich gut, wenn es wohlfeile Sündenböcke gibt: Schuld sind die Bauern und die Chemiekonzerne. Obwohl sie doch nur Bedürfnisse einer Gesellschaft befriedigen, die ihren liebgewordenen Lebensstandard nicht einschränken will. Die gern den Wolf hätschelt und dabei nicht wahrhaben will, dass unkontrollierte Wolfsbestände eben jene Landwirtschaft gefährden, die unserem Bio-Gewissen sonst so genehm ist: Weidehaltung mit glücklichen Kühen auf artenreichen Wiesen. Mit jeder Menge Kleingetier, das sogar aus dem Mist noch Leben zaubert – und Nahrung für selten gewordene Vögel.
Wenn sich das Scheren der Schafe kaum noch lohnt, weil teure Klamotten aus Hightech-Kunstfasern das gute Gewissen fördern, ist dem naturnahen Wirtschaften ein Bärendienst erwiesen. Wenn der Trend anhält, werden Lederschuhe in nicht ferner Zukunft verpönt sein wie heute schon der Pelz am Mantelkragen. Wie soll bei solcher Freude am Widersinn in die Köpfe, dass vieles schief läuft, wenn die Treibhausgase kaum weniger werden, obwohl der Klimawandel ein alles beherrschendes Thema zu sein scheint.
auf Klimakiller-Kreuzfahrtschiffen finden sich reichlich Bildungsbürger im Unruhestand, die daheim für Feinstaub-Fahrverbote DEN ERHALT DER REGENWÄLDER unterschreiben
Wahr ist zugleich, dass die Lebenserwartung trotz des Raubbaus beständig steigt und der Fortschrittsglaube zumindest auf einem Feld ungebrochen scheint: Wenn es um die eigene Gesundheit geht, ist Chemie mitnichten verpönt. So wahr sich auf Klimakiller-Kreuzfahrtschiffen auch reichlich Bildungsbürger im Unruhestand finden, die daheim für Feinstaub-Fahrverbote unterschreiben und für den Erhalt der Regenwälder.
Wobei das eigene gute Gewissen auch sehr gern den Preis haben darf, dass auf fernen Kontinenten umso brutaler gewirtschaftet wird – auch mit Glyphosat. Dort gibt es ja das dazu passende Saatgut, gentechnisch so verändert, dass das Gift den Nutzpflanzen nichts anhaben kann und dem Einsatz über die gesamte Vegetationsperiode nichts entgegensteht. Aber wer glaubt, solcher Irrsinn wäre aufzuhalten, wenn wir daheim für vermeintlich paradiesische Zustände sorgen, irrt gewaltig: Noch mehr globaler Warenverkehr mit all seinen Folgen für Umwelt und Klima wäre die Folge.
Womöglich gibt es aber auch wirklich passende Antworten: Immer mehr Bauern erkennen die Chancen der allgemeinen Verunsicherung. Sie verzichten freiwillig auf Pflanzengifte, nicht selten über ganze Landkreise. Und sie hoffen, dass die Sehnsucht nach einem guten Gewissen ihr Wagnis trägt. Mit ökologisch sinnvollen kurzen Transportwegen obendrein. Ob die vermeintlich sensibilisierten Verbraucher solchen Wagemut honorieren, dürfte für die Umwelt wichtiger sein als alle Demonstrationszüge.
Dass wir uns eine solche Wende leisten könnten, scheint ziemlich sicher: Das nächste Auto etwas kleiner und mit weniger Pferdestärken bestellen, den Brückentag-Urlaub daheim verbringen und im Winter mal, statt die Heizung höher zu drehen, einen warmen Pullover anziehen – gern aus Schafwolle. Wenn es zu Festtagen ein Rehrücken sein darf statt dem sündteuren Mode-Rindfleisch aus fernen Kontinenten, wäre nicht nur dem Geldbeutel und der Umwelt geholfen, sondern auch dem guten Gewissen. Und beim Einschalten der Lichterketten im Garten immer dran denken, dass gerade Öko-Strom eine Menge mit Glyphosat zu tun hat.